Aus dem Alltag einer Pflegeberaterin
von Angelika Niedermaier
„Angelika, ich habe dich eben an eine Familie empfohlen und es brennt dort lichterloh! Ein Herr Heinrich (Name geändert) wird dich anrufen…“ – so begann im Frühjahr 2017 ein Telefonat mit einer Freundin, die als mobile Fußpflegerin arbeitet. Keine zehn Minuten später hatte ich den damals erst 70-jährigen Herrn Heinrich am Telefon. Eine mehr hauchende als klare Stimme, unterbrochen von unüberhörbarem Schluchzen, meldete sich und bat darum, dass ich ihm helfe, er wisse nicht mehr weiter. Wenige Minuten und einige Fragen später war klar, diese Familie brauchte mich wirklich.
Angelika Niedermaier
Seit 2016 arbeitet Angelika Niedermaier als zertifizierte Pflegeberaterin nach § 7a SGB XI – ein Beruf, den kaum jemand kennt. Die wenigsten arbeiten wie sie selbständig, denn Pflegeberater:innen arbeiten eigentlich angestellt bei Pflegekassen. Knapp zwanzig Jahren ist Angelika Niedermaier in der Pflegebranche als Einrichtungsleiterin in Pflegeheimen tätig, später als Regionalleitung von zehn Pflegeheimen bayernweit. Ihre ersten Erfahrungswerte mit der Pflege und Betreuung hat sie allerdings schon vorher und vor allem sehr „schmerzhaft“ gemacht: ihr Schwiegervater war vor weit als 20 Jahren an Alzheimer Demenz erkrankt. Was also Pflege und Betreuung von einer der anstrengendsten Seiten bedeutet, habe sie auf das Bitterlichste selbst erlebt. Diese Erfahrungswerte haben nicht nur ihr Denken und ihre Einstellung zu alten und hilfebedürftigen Menschen verändert, es sie geprägt! Angelika Niedermaier hat damit ihre Berufung gefunden. Heute gibt sie von ganzem Herzen all ihre Erfahrungen, ihre Erlebnisse und ihr Wissen an die Menschen weiter, die es brauchen: nämlich dann, wenn eine – meist akute – Pflegesituation eintritt.
Warum erzähle ich von Familie Heinrich? Weil diese Familiengeschichte zeigt, welch doch recht weitreichende Möglichkeiten es gibt, um eine Pflegebedürftigkeit zu bewältigen, denn bei Familie Heinrich waren umfangreiche Maßnahmen notwendig. Ich möchte Hoffnung geben und aufzeigen, dass der erste Schritt immer der ist, sich umgehend professionelle Hilfe und Wissen zu holen, bevor man anfängt, umständlich zeit- und kostenaufwändig Recherche zu betreiben und riskiert, unter Umständen sogar mit falschen Informationen „gefüttert“ zu werden. Und ich möchte aufzeigen, wie meine Arbeit als Pflegeberaterin aussieht.
Baustellen über Baustellen
Die 73-jährige Ehefrau von Herrn Heinrich war an Demenz erkrankt. Seit fast schon einem Jahr lag sie nur noch im Bett, wollte nichts mehr essen, trank kaum etwas, hatte fast 25 kg abgenommen. Herr Heinrich liebte seine Frau abgöttisch und tat alles, was in seinen Mächten stand und das war recht wenig. Er war selbst gebeutelt von tiefen Depressionen seit seiner Jugend und heftigsten Rückenschmerzen. Kinder hatten die beiden nicht, im Freundeskreis gab es nur ein schon älteres Ehepaar und ihre Haushaltshilfe. Ein extrem kleines soziales Umfeld also – die beiden hatten Zeit ihres Lebens immer nur sich selber und waren bis zu diesem Zeitpunkt auch glücklich mit dieser Situation. Doch dann zeigte sich eben dramatisch, dass es ohne Hilfe von Familie, weiteren Angehörigen oder sonstigen Helfern einfach nicht mehr ging.
Erste Schritte
So lernte ich die beiden also kennen. In meiner Beratung ließ ich mir erstmal die Hintergründe der Pflegebedürftigkeit erzählen. Wir besprachen, wie die weitere Versorgung aussehen sollte sowie alle Maßnahmen, die dazu notwendig waren. Schnell war mir klar, dass Herr Heinrich mit seiner massiv angeschlagenen psychischen Verfassung kaum in der Lage sein würde, die Situation allein zu regeln. Seine Frage an mich, ob ich ihnen bei diesen Schritten helfen würde, konnte ich aufgrund des fehlenden sozialen Umfelds deshalb nur bejahen. So nahm ich als erstes den Kontakt zur Ärztin auf, klärte die Situation und wir ließen Frau Heinrich ins Krankenhaus einweisen, um abzuklären, wo diese Appetitlosigkeit und die massive Gewichtsabnahme herrührte. Umgehend veranlasste ich die Einstufung in einen Pflegegrad und stellte dazu den Antrag bei der Pflegekasse, damit wir die weitere Versorgung auch mit Mitteln aus der Pflegeversicherung organisieren und finanzieren konnten. Durch die Pflegereform 2017, der aktuell letzten und umfassenden gesetzlichen Anpassung durch das Pflegestärkungsgesetz II, gibt es zwischenzeitlich eine Vielzahl an Möglichkeiten, um sich bei einer ambulanten Pflege (so nennt man die Pflege zuhause) die notwendige Unterstützung in Form von Dienstleistern oder finanziellen Mitteln zu holen. Bedauerlicherweise kennen die meisten Betroffenen nur einen kleinen Teil dieser Leistungen und lassen daher Vieles ungenutzt.
Gottseidank waren bei Frau Heinrich keine körperlichen Ursachen für ihren desolaten Zustand zu finden, allerdings wurde eine weit fortgeschrittene Demenz diagnostiziert. Ohne tiefer in die Materie Demenz einzusteigen, will ich hier kurz darstellen, dass auch ein sehr gestörtes Verhältnis zum Essen und Trinken von der Demenz herrühren kann. Haben die einen kein Sättigungsgefühl mehr und stopfen Essen bis zum Erbrechen in sich hinein, kann sich bei anderen ein „Vergessen von Essen“ einstellen.
Eine Maschinerie läuft an
Ein Gespräch mit dem Sozialdienst im Krankenhaus ergab sehr schnell, dass eine Versorgung zuhause für Herrn Heinrich nahezu unmöglich sein würde, da eine umfassende Pflege und Betreuung notwendig war. Auch die Hausärztin betonte dies. Ein Umzug in ein Pflegeheim war in dieser Situation praktisch unumgänglich. Ich war prinzipiell der gleichen Meinung, aber ich wusste auch, dass wir diese beiden Menschen nicht trennen durften, zu sehr waren sie verbunden und ich wusste, welche Möglichkeiten es gab, den Umzug erstmal hinauszuzögern. Herr Heinrich brach zusammen, als er von der Notwendigkeit erfuhr. Er selbst war zu dem Zeitpunkt nicht pflegebedürftig und ein Mit-Umzug ins Pflegeheim schloss sich daher komplett aus. Mit meiner Unterstützung zogen wir alle Register einer Versorgung, die es gab und die ich hier gerne mal aufführen möchte, um auch anderen Menschen Mut zu machen. Mut, die Versorgung, auch wenn es nahezu aussichtslos scheint, erstmal zuhause zu versuchen, soweit es der Wunsch aller Betroffenen ist. Ich ließ die komplette Maschinerie an Möglichkeiten anlaufen: wir organisierten eine umfassende Unterstützung durch den ambulanten Dienst, dieser kam fortan dreimal am Tag, auch wenn die Einstufung bis dato noch nicht erfolgt war, die Aussicht darauf aber mehr als gegeben war. Durch das Essen auf Rädern kam sodann nicht nur jeden Tag Mittagessen ins Haus (für beide), wir gewährleisteten damit auch, dass noch ein weiterer Kontakt pro Tag zustande kam. Durch die lange Liegezeit von Frau Heinrich war ihre Mobilität stark eingeschränkt. Ich organisierte über die Hausärztin Verordnungen für Physiotherapie und Ergotherapie – wieder zwei weitere Kontakte pro Woche. Die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MD) begleitete ich professionell und wir erreichten auf Anhieb den Pflegegrad 4, welcher der Pflegebedürftigkeit von Frau Heinrich absolut entsprach. Hier habe ich im Laufe der Jahre große Erfahrungswerte angesammelt und kann die Begutachtung daher perfekt vorbereiten und begleiten. Durch die damit möglichen Entlastungsleistungen und die stundenweise Verhinderungspflege (beides Leistungstöpfe der Pflegeversicherung) konnte ich weitere Unterstützung organisieren: eine ehrenamtliche Helferin, die wöchentlich für eine Stunde vorbeischaute und sich mit Frau Heinrich unterhielt, mit ihr Fotoalben anschaute und so versuchte, sie kognitiv etwas zu aktivieren. Außerdem eine Einkaufshilfe, um den körperlich angeschlagenen Herrn Heinrich zusätzlich zu entlasten. Ich als Pflegeberaterin stand der Familie laufend zur Seite, übernahm die komplette Kommunikation mit der Kranken- und Pflegekasse. Stellte Anträge auf ein Pflegebett, auf einen Badelifter, einen Rollator und Rollstuhl. Selbst das Inkontinenzmaterial hatte Herr Heinrich bis dahin selbst für seine Frau bezahlt. Eine Verordnung der Hausärztin ermöglichte den Bezug über einen Lieferdienst von professionellem Inkontinenzmaterial. Wir beantragten die gesetzliche Betreuung für Frau Heinrich, diese wurde über das Betreuungsgericht Herrn Heinrich zugesprochen und er war damit allumfassend handlungsberechtigt für seine Ehefrau. Dies ist nämlich nicht selbstverständlich der Fall. Die Hausärztin, die umfassend mit eingebunden wurde in dieses Versorgungsnetz, unterstützte zudem mit einem zugesagten wöchentlichen Hausbesuch.
Am Ende wieder vereint
Durch die Nutzung aller möglichen Leistungstöpfe der Pflegeversicherung und dem Zusammenspiel aller Akteure konnten wir die Familie Heinrich so erst einmal umfassend unterstützen und den beiden die Chance geben auf eine weitere Zeit der Zweisamkeit zuhause. Frau Heinrich fing wieder an zu essen, Herr Heinrich erholte sich psychisch und auch körperlich, da er nahezu vollkommen von der körperlichen Pflege entlastet war. Natürlich war allen klar, auch Herrn Heinrich, dass es nur eine Frage auf Zeit war, bis selbst dieses umfassende System nicht mehr ausreichen würde. Daher befassten wir uns mit dem Aussuchen eines geeigneten Pflegeheimes, in das seine Ehefrau, wenn der Zeitpunkt gekommen war, umziehen sollte. Dieses war nach wenigen Wochen gefunden, eine Voranmeldung getätigt.
Tja, wie ging es weiter? Frau Heinrich lebte noch für fünf Monate in einem perfekten Versorgungssystem zuhause. Dann allerdings wurde die Pflege zu belastend für Herrn Heinrich und wir vollzogen den Umzug seiner Frau in das gewünschte Pflegeheim. So konnte er sich aber monatelang mit dem bevorstehenden Umzug auseinander setzen und die Entscheidung fiel dann nicht mehr so schwer. Das war Ende Juli 2017. Herr Heinrich besuchte fortan seine Frau jeden Tag, denn die Liebe dieser beiden war wirklich außergewöhnlich tief. Im November 2019 zog Herrn Heinrich ebenfalls in dieses Pflegeheim, nachdem auch seine körperliche und psychische Verfassung immer schlechter wurde, wir auch für ihn einen Pflegegrad erreichten und war damit wieder mit seiner Ehefrau Tag und Nacht vereint.
Dieser Bericht in Form einer wahren Geschichte soll Ihnen aufzeigen, wie komplex Pflegebedürftigkeit sein kann. Sich in dieser Situation durch den Dschungel der Pflege kämpfen zu müssen, ist eine unglaubliche Herausforderung, die – aus meiner Erfahrung heraus – nur den Wenigsten innerhalb kürzester Zeit gelingt. Holen Sie sich daher die nötigen „Mitspieler“ von Anfang an an Ihre Seite – es lohnt sich in jedem Fall und spart Ihnen eine Menge Zeit, Ärger, Nerven und vor allem Geld.
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