Lebe weiter, Sabinchen! (6)

Was bisher geschah

Lebe weiter, Sabinchen! (6)

„Was ist mit Sabinchen, was ist denn nur mit ihr? Ist es denn immer noch nicht möglich, eine exakte Diagnose zu stellen?“, fragte Bernd Helmer lautstark und stützte sich mit beiden Armen auf Dr. Schmelzers Schreibtisch.

Schmelzer wirkte etwas hilflos.

„Also, um die Wahrheit zu sagen“, begann er vorsichtig und blickte Bernd Helmer fest in die Augen, „wir wissen es leider immer noch nicht genau!“

Dr. Schmelzer sah seinem Gegenüber an, daß diese Antwort alles andere als befriedigend war. Noch schien es ihm aber zu früh zu sein, dem Vater des Kindes etwas von den erhöhten Krebszellenwerten im Blut zu sagen. Denn solange eine gewisse Hoffnung auf Heilung bestand, wollte man weder Vater noch Tochter unnötig mit schlechten Nachrichten belasten. Außerdem kannte man ja tatsächlich nach wie vor nicht den Ort des möglichen Tumors. Die Lage war wirklich verzweiflungsvoll…

***

Und während die Ärzte der Donauklinik mitunter einen Kampf auf Leben und Tod führten, nahm das Leben in der Domstadt seinen gewohnten Gang. Der Nebel zog durch die Gassen, auf den Weihnachtsmärkten tummelten sich El-tern und Kinder, tranken Glühwein und Punsch, im Hofbräuhaus stritt man darüber, wer denn nun der beste Trainer für den Jahn sei und wer nicht, der Uli verwöhnte seine Gäste mit Altbayerischen Schmankerln und sammelte Anekdoten für sein Dampfnudel-Buch, die alte Schnupfe, hieß es, würde auch weiterhin leerstehen, der Süddturm des Domes für immer eingerüstet bleiben, und ob Regensburg mit seiner neuen Maxstraße Kulturhauptstadt werden könnte, das stand noch in den Sternen. Genau wie die Frage, was wohl eher fertig würde: Scheuerers gläserner Turm am Peterstor oder Zitzelsbergers Turmbau im Hafen.

Die „Stadtmäuse“ kümmerte das alles wenig. Sie trieben weiter ihren historischen Schabernack, die Tauben gurrten, und der Duft der Zuckerfabrik legte sich wie ein süßer Hauch auf Straßen und Plätze.

Viele Kilometer von Regensburg entfernt saß Britta mit ihrer Freundin Heike in einem jener chicen Cafés am Kurfürstendamm in Berlin. Sie bestellte ein Glas Prosecco, als das Handy in ihrer Tasche klingelte. Britta nahm das Telefon blitzschnell heraus, sah sich die Nummer auf dem Display an, dann drückte sie auf den roten Hörer, um das Gespräch abzuweisen.

„Bernd?“, fragte Heike besorgt.
„Ja“, antwortete Britta knapp.
Heike, eine großgewachsene Frau mit braunen, langen Haaren und mildem Gesichtsausdruck, sah ihrer

Freundin an, daß etwas nicht ganz in Ordnung war. Sie bot der Freundin eine Zigarette an, die Britta dankbar annahm und gleich anzündete.

„Ist es wegen Sabinchen?“, wollte Heike wissen, „du kannst mir alles sagen.“

Britta zog geistesabwesend an ihrer Zigarette und starrte auf den Aschenbecher, der vor ihr auf dem Tisch stand.

„Jetzt sag’ mir doch bitte, was passiert ist“, insistierte Heike.
„Ich spüre doch schon den ganzen Tag, daß es dir nicht gut geht.“
Britta wischte sich eine Träne von der Wange und sah ihrer Freundin in die Augen.
„Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll“, begann sie endlich,„aber eins ist klar: es kann nicht mehr so weitergehen wie bisher.“
Heike legte ihre Hand auf die ihrer Freundin. Die Frauen lächelten sich an, dann fuhr Britta fort:
„Erinnerst du dich noch daran, als ich dir zum ersten mal von Bernd erzählt habe? Damals warst du bei mir zu Besuch und ich kam total beschwingt vom Einkaufen zurück.“
„Ja. Du warst total verliebt.“
„Das war ich! Nach der Enttäuschung mit meinem ersten Freund
kam mir Bernd damals wie ein lässiger Cowboy vor, einer, dem man unbeschwert folgen kann, an dessen

Schultern man sich lehnen und träumen kann. Ich war halt noch sehr jung und dachte nicht an die Zukunft.“ Heike verstand Britta nur allzu gut. Allerdings war sie bereits sehr früh der Meinung gewesen, daß Bernd und Britta nicht wirklich zusammenpaßten. Das hatte sie der Freundin aber nie so direkt gesagt.
Bernd und Britta hatten schon damals sehr verschiedene Auffassungen davon gehabt, wie sie ihr Leben führen wollten. Immerhin hatte Bernd eine kleine Tochter zu versorgen, und Britta hatte schon immer von

beruflicher Karriere ge-träumt, von Auslandsaufenthalten und ausgedehnten Reisen.
Heike kämpfte innerlich mit sich. Auf der einen Seite wollte sie Britta schonen, sie nicht verletzen, aber auf der anderen Seite hatte sie als beste Freundin auch die Pflicht, ehrlich ihre Meinung zu sagen, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Und die Wahrheit war, daß Britta tatsächlich einen kräftigen Schlußstrich unter ihr bisheriges Leben ziehen mußte. Sie mußte Bernd und Sabinchen gegenüber eingestehen, daß ihr bisheriges Zusammensein nicht dem entsprach, was man eine funktionierende Familie nennen konnte. Zu Sabinchen hatte sie die ganzen Jahre über keine mütterliche Beziehung aufbauen können, und das würde sich auch in Zukunft nicht ändern. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, mußte sie auch zugeben, daß sie Bernd eigentlich nie wirklich geliebt hatte. Das waren die traurigen Fakten.

Und, als hätte Britta die Gedanken ihrer Freundin gelesen, sagte sie:
„Mir ist klar geworden, daß eine Trennung unausweichlich ist. Ich habe keine Ahnung, wie Bernd das auffassen wird, und wenn ich an Sabinchen denke, so bricht es mir fast das Herz. Aber ich muß jetzt nach vorne schauen und mein Leben in den Griff bekommen. Vielleicht findet sich ja für alles eine Lösung.“

Kaum hatte sie ausgesprochen, da klingelte das Handy in ihrer Tasche.
„Ach“, sagte sie, „ich hätte es ausschalten sollen.“
Sie griff in ihre Tasche und… ja! Es war Bernd. Wie sie vermutet hatte.
„Na geh’ schon ran“, meinte Heike, „kannst ja sagen, daß wir gerade beim Essen sind und daß du dich später bei ihm meldest.“
„Mach ich!“ Britta räusperte sich kurz, holte tief Luft und nahm das Gespräch entgegen.
Heike sah ihre Freundin an und merkte sogleich, daß dieses Ge-spräch nicht mit einem einfachen „ich ruf dich gleich zurück“ abgetan sein würde.
„Kannst du kommen“, fragte Bernd Helmer am anderen Ende der Leitung. „Sabinchen ist auf die

Intensivstation verlegt worden, ich glaube, die Sache ist sehr ernst.“
Seinen eigenen Unfall verschwieg er. „Ich komme!“, hauchte Britta mit schwacher Stimme in den Hörer,

„ich komme!“

***

„Wir müssen intubieren“, rief Prof. Gabriel dem Anästhesisten Dr. Jähler zu, der gerade das Intensivpflegezimmer betrat, in das Sabinchen überraschend verlegt worden war.

Gegen Abend hatte Bernd Helmer nämlich wieder bei Sabinchen am Bett gesessen und war dann plötzlich eingenickt. In dieser Zeit war Sabinchen ein zweites Mal ohnmächtig geworden. Da also niemand sofort den Alarmknopf hatte betätigen können, hatte man den erneuten Ohnmachtsanfall erst mit einer gewissen Zeitverzögerung entdeckt.

Schwester Susi war glücklicherweise außerhalb ihrer regulären Runde in Sabinchens Zimmer gekommen. Dort hatte sie den schlafenden Bernd Helmer und das schwach atmende Kind vorgefunden.

Dann war alles sehr schnell gegangen. Schwester Susi hatte Professor Gabriel den Vorfall gemeldet und Sabinchen auf die Kinder-Intensivsta-tion I 2 gefahren. Da Dr. Schmelzer gerade im Operationssaal gewesen war, war es dann auch der Professor gewesen, der das Kind besorgt in Empfang genommen hatte.

„Meinen Sie wirklich, daß wir sie beatmen müssen?“, fragte Dr. Jähler.
„Ja!“, war Prof. Gabriels knappe Antwort.
Dr. Jähler kannte Prof. Gabriel nun schon lange genug, und er wußte, daß man sich auf die Anweisungen des Chefarztes stets verlassen konnte, vor allem in schwierigen Situationen.
Jetzt war also keine Zeit zu verlieren. Dr. Jähler griff routiniert zu dem silbernen Intubationsbesteck, das auf dem Notfallwagen lag und begann, Sabinchen an die Beatmungsmaschine anzuschließen.
Draußen vor der Scheibe stand Schwester Susi. Sie war zwar nicht mehr im Dienst, aber der Vorfall mit

Sabinchen ließ ihr keine Ruhe. Irgendwie war ihr das kleine Mädchen ans Herz gewachsen.
„Kommen Sie nur herein, Schwester Susi“, sagte Prof. Gabriel und gab der Schwester einen Wink.

Schwester Susi nahm die Aufforderung gerne an und trat nun ebenfalls in das Intensivpflegezimmer.
In rhythmischen Intervallen konnte man das Ein- und Ausströmen der Luft hören. Die Beatmungsmaschine hatte bereits zu arbeiten begonnen. Ihre künstlichen Luftkammern blähten sich auf, dann hörte man ein leises

Knacken, und die Luftkammern zogen sich wieder zusammen: knack – pfff – knack – pfff…
„Ist Ihnen nicht wohl, Schwester Susi?“, wollte Prof. Gabriel wissen. Denn Schwester Susi hatte für einen

Moment gedankenverloren dagestanden.
„Nein, nein, Herr Professor, ich habe nur gerade nachgedacht!“
Das „knack – pfff“ der Beatmungsmaschine hatte sich in ihr sonst so hellwaches Köpfchen gebohrt und ließ sie nicht mehr los.
„Puls ist jetzt wieder stabil“, konstatierte Dr. Jähler und beobachtete aufmerksam die blinkenden Anzeigen

und leuchtenden Zahlen der elektronischen Geräte. „Für’s erste hätten wir sie gerettet!“ Seinem ernsten Gesichtsausdruck war jedoch deutlich zu entnehmen, daß auch er sich große Sorgen machte.

„Komisch“, sagte Schwester Susi, „manchmal ist das Leben nicht mehr als ein ‚knack–pfff!’ – oder ein

leises Summen elektrischer Geräte.“
„Kaum wahrnehmbar“, ergänzte Professor Gabriel, „kaum wahrnehmbar. Ja, so ist es.“

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