von Enno Schulz
Nach vier Jahren einer Präsidentschaft, die geprägt war von quasi täglichen Tabubrüchen atmen die USA durch. Bereits nach der Wahl Anfang November vergangenen Jahres schien die Welt kurz inne zu halten und sich zurückzudenken in eine Zeit vor Donald Trump. Aber es waren noch einmal herausfordernde und lange Wochen zwischen dem 03. November und dem 20. Januar. Lang für alle Beobachter, die mit Überzeugung an die Grundidee der Demokratie glauben und herausfordernd vor allem für die Verfassung der USA.
Der Sturm auf das Capitol am 06. Januar war eine Attacke auf das Herzstück der Amerikanischen Demokratie. Eine Attacke, die abgewehrt wurde. All der Hass, all der Frust, der die „stolzen Jungs“ und ihren Schamanenkönig nach Washington getrieben hat, brachte letztlich nur Zerstörung und Tod, nicht aber die ersehnte Revolution. Im Gegenteil: genau zwei Wochen später wird die ganze Welt Zeuge, wie an Ort und Stelle Joseph Robinette Biden zum 46ten US-Präsidenten vereidigt wird.
In seiner ersten Rede als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird mehr als deutlich, worauf er sich in den kommenden vier Jahren konzentrieren möchte. Zehn Mal verwendet er das Wort „Unity“ – also Einheit bzw. Einigkeit. Joe Biden übernimmt das Ruder in einer Zeit, in der eben diese Einheit so weit entfernt ist wie vielleicht nie zuvor in der amerikanischen Geschichte. Das Land und sein politisches System leiden unter extremer Polarisierung. Die ländliche Bevölkerung, gerade in klassischen Arbeitergegenden, fühlt sich zunehmend abgehängt und von städtischen Eliten verhöhnt. Auf der anderen Seite gibt es u.a. die Black Lives Matter-Bewegung, die immer noch währende Missstände in der Gesellschaft anprangert und dabei immer lauter wird. Letzterer Gruppe wird es auch nicht genügen, dass mit Kamala Harris die erste schwarze Frau das Amt der Vizepräsidentin bekleidet. Gleichermaßen werden die hartgesottenen Trump-Wähler sich nicht friedlich zurückziehen, sind bzw. wurden sie doch überzeugt, dass Joe Biden gar nicht legitim gewählt wurde. Bevor man diese Menschen für eine Einheit gewinnen kann, muss man sie zunächst wieder in die Realität zurückholen – und das alles in einer Zeit, in der eine Pandemie wütet und neben dem Gesundheitssystem auch die Wirtschaft wankt. Es wird ein hartes Stück Arbeit, so viel ist sicher. Aber Joe Biden hat Erfahrung im Umgang mit Krisen. Als er an Barack Obamas Seite 2009 zum Vizepräsidenten vereidigt wurde, sah man sich ebenfalls auf dem Höhepunkt einer Wirtschaftskrise. Deren erfolgreiche Bekämpfung gilt im Nachhinein als einer der größten Erfolge der achtjährigen Amtszeit von Obama und Biden.
Um die aktuell katastrophale Situation in den Griff zu bekommen, muss der frisch vereidigte Präsident eng mit seinen demokratischen Verbündeten Nancy Pelosi (Sprecherin im Repräsentantenhaus) und Chuck Schumer (Mehrheitsführer im Senat) zusammenarbeiten. Zumindest für die nächsten zwei Jahre ist ihnen in beiden Kammern des Parlaments eine Mehrheit sicher. Theoretisch macht das vieles deutlich einfacher für Biden. Doch auch innerhalb der Demokratischen Partei ist längst keine einheitliche Linie gefunden. Joe Biden gilt als gemäßigt. Viele junge und aufstrebende Demokraten hätten sich aber im Vorwahlkampf eine deutlich progressivere Ausrichtung gewünscht. Und es mutet durchaus bizarr an, dass die Republikanische Partei öffentlich als Partei der „alten weißen Männer“ kritisiert wird und der politische Konkurrent die Wahl gewinnt – mit einem weißen Mann als Kandidaten, der am Tag seiner Inauguration älter war als alle seine Vorgänger. Das heizt auch Spekulationen an, er stünde 2024 ohnehin nicht mehr zur Wahl, weil dann Kamala Harris übernehmen solle und er sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückziehe. Aber 2024 hin oder her, für die aktuelle Situation ist der 78-Jährige „Working-Class-Joe“ (Arbeiterklassen-Joe) ein gute, vielleicht die beste Wahl. Er kennt Washington, er kennt das Weiße Haus und er versteht, dass er alleine nichts erreichen kann. Er will möglichst über die Parteigrenzen hinaus regieren, im Kongress auch republikanische Stimmen für seine Vorhaben gewinnen. Hier wird sein Verhandlungsgeschick gefragt sein und man kann sich für die USA nur wünschen, dass er dabei erfolgreich ist.
Was den neuen Präsidenten allerdings in besonderem Maße auszeichnet – und das ist vor dem Hintergrund der letzten vier Jahre nicht zu unterschätzen – ist seine Fähigkeit zur Empathie. Geprägt von eigenen Schicksalsschlägen, vermittelt er authentisch seine Anteilnahme an dem Leid anderer. Ob das reicht, die vielen klaffenden Wunden der amerikanischen Gesellschaft zu heilen, ist zu bezweifeln, aber es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung!
Klar ist aber auch, dass die Regierung nicht allein den Ton angibt. In den kommenden zwei Jahren entscheidet sich auch der weitere Weg der Republikanischen Partei. Wird sie geschluckt vom maroden Trump-Imperium und geht daran zu Grunde? Löst sich das Partei-Establishment vom Trumpismus und riskiert damit den Verlust der Wählerbasis? Wird die Partei gar aufgespalten? Welche Richtung die „Grand Old Party“ von nun an einschlägt, wird maßgeblichen Einfluss darauf haben, ob es gelingt, die Gesellschaft wieder in einer gemeinsamen Realität zusammenzuführen.
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Wunderbar auf den Punkt gebracht! Ich warte aktuell besonders auf US Unterstützung zum Arbeitsantritt der ersten WTO Director General Dr. Ngozi Okonjo-Iweala – die erste Frau, die erste Afrikanerin. Auch hier muss Biden mal wieder eine US Blockade lösen. Das Jahr 2021 auf der Weltbühne zu beobachten wird spannend!
Zum Thema hier auch ein Interessanter Kommentar in der SZ:
https://www.sueddeutsche.de/meinung/impeachment-trump-republikaner-1.5185570